Hits und Stars der Sprechmaschinen-Ära

Stimmen und Melodien aus Kabarett, Varieté und dem Berliner Leben

Noch vor dem Siegeszug der Schallplatte konnte mit Wachszylindern Musik originalgetreu wiedergeben werden. Dieses heute fast vergessene Speichermedium legte zugleich den  Grundstein für eine umfassende Musikindustrie, die neben populären Künstlerinnen und Künstlern zahllose Schlager hervorbrachte.

Im ersten Teil unseres Beitrags haben wir die von Thomas Alva Edison erfundene „Sprechmaschine“ vorgestellt – den mit  Walzen aus Wachs bestückten Phonographen. Damit war Musik nicht mehr an den Moment der Wiedergabe gebunden, sondern auch jederzeit als Musik aus der Dose verfügbar. Durch die Aufnahmetechnik über einen Schalltrichter konnte die Walze vor allem Stimmen naturgetreu wiedergeben.

Bekannte Stars aus dem Kabarett und Varieté nutzten dieses Medium für kurze Szenen und Dialoge, die extra für die verfügbare Spieldauer von zwei Minuten eingerichtet wurden. Aufgenommen wurden Parodien, mundartliche und humoristische Vorträge und Kommentare zu aktuellen Ereignissen aus dem wilhelminischen Berlin, die heute als interessante zeithistorische Quellen dienen.

Das Aufziehen der Schlosswache, 1914 © Stadtmuseum Berlin | Foto: Max Missmann

Damals alltägliche Straßenszenen wurden auf den Walzen verewigt, so zum Beispiel das mittägliche Aufziehen der Schlosswache vor der Neuen Wache auf dem Boulevard Unter den Linden. Begleitet wurden diese Szenen vom Marschrhythmus der Blaskapellen, der im kaiserlichen Berlin ohnehin den Takt angab und einen erheblichen Teil des Walzen-Repertoires ausmachte. Für die Aufnahmen stand wie bei dem folgenden Tonstück das Edison-Orchester unter Leitung seines Dirigenten Max Büchner zur Verfügung. Wie bei öffentlichen Aufmärschen erklingt auf der Walze damals sehr populäre Militärmusik, die auch von der Kapelle des Kaiser Franz Garde-Grenadier-Regiments Nr. 2 gespielt wurde, welche bei der Berliner Bevölkerung großes Ansehen genoss.

Stadtmuseum Berlin • Aufziehen der Schloßwache - Kaiser Franz Garde Grenadier-Regiment - 1904

Eine humoristische Aufnahme gibt die volksfesthafte Stimmung bei der Rückkehr des Kaisers von der Parade wieder, die von diesem berühmten Orchester musikalisch begleitet wurde: Unter den Linden erschallt Volksgemurmel, die Berliner erwarten ihren Kaiser, der von der Parade auf dem Tempelhofer Feld zurückkehrt und die Fahnenkompanie anführt. Händler mit Ansichtspostkarten und heißen Würstchen bestimmen die Szenerie. Der Befehl eines Schutzmanns hebt sich vom Stimmengewirr ab und ruft die Menge zum Zurücktreten auf. Die Musik einer Blaskapelle nähert sich allmählich, zieht vorüber und verklingt.

Martin Bendix, Notendruck © Stadtmuseum Berlin

Den Alt-Berliner Humor repräsentierte der Vortragskünstler Martin Bendix, einer der ersten „Sprechmaschinenkünstler“. In seinen meist selbst verfassten Couplets – scherzhaft-satirischen Strophengedichten – verkörperte der „Urkomische“ typische Berliner Volksgestalten. Er war der Star des American Theater in der Dresdner Straße und trat dort gemeinsam mit seinem Sohn Paul auf. Urwüchsige Kalauer und derber Volkswitz bestimmten seine Vorträge. In Stammtischgesprächen, Dialogen beim Zahnarzt oder beim Photographen gab er alltägliche Begebenheiten „kleiner Leute“ wieder.

Stadtmuseum BerlinBeim Zahnarzt - Martin Bendix - 1904

Portrait von Gustav Schönwald, Phonographische Zeitschrift, 6. Jg., 1905, Nr. 43, S. 95

Ein Pionier der frühen Aufnahmetechnik war der Humorist Gustav Schönwald. Seine Stimme war vortrefflich für den Trichter geeignet, und auch seine langjährige Erfahrung mit dem Medium machte ihn zum idealen „Maschinensprecher“. Im typischen Berliner Jargon gab er die raue, aber versöhnliche Mentalität des Spreeatheners zu erkennen, der sich im Zirkus, auf dem Jahrmarkt oder auf der Radrennbahn amüsierte. Immer die Volksseele im Blick, fing er die Stimmung beim Tanz des Rixdorfers ein, einer beliebten Berliner Polka, oder berichtete von einem sonntäglichen Familien-Ausflug ins Berliner Umland.

Stadtmuseum BerlinEin Berliner Sonntagsvergnügen - Gustav Schönwald - 1905

Inserat von Guido Gialdini, in: Das Programm, Juni 1921 © Stadtmuseum Berlin

Ein heute längst vergessenes Genre der Kleinkunst, das vorzüglich vom Trichter eines Phonographen eingefangen werden konnte, war das Kunstpfeifen. Der Pfeifkünstler Guido Gialdini konnte jede Tonfolge, die er auch nur ein einziges Mal gehört hatte, so exakt und pfeiftechnisch brillant wiedergeben, dass es dem Klang einer Piccolo-Flöte nahe kam. Gialdini war ein Naturtalent und auf den Varietébühnen weltweit gefragt. Seine Spur verliert sich nach Schallplattenaufnahmen im Oktober 1935 in Berlin. Sein bürgerlicher Name Kurt Abramowitsch deutet auf eine jüdische Herkunft hin. Hinweise über eine Ausreise in die USA sind bislang nicht belegt, wie auch die Vermutung, dass er 1944 im Vernichtungslager Auschwitz umgekommen sei.

Stadtmuseum BerlinLa Housarde - Guido Gialdini - 1905

Victor Hollaender: Der letzte Taler, Notendruck © Stadtmuseum Berlin

Der Phonograph eröffnete den Musikliebenden jederzeit das Vergnügen, am musikalischen Geschehen der Stadt teilzuhaben. Erfolgsnummern, von Stars der Berliner Bühnen unmittelbar nach der Premiere aufgenommen, gelangten so direkt ins heimische Wohnzimmer, wo sie nach Belieben abgespielt werden konnten. Dazu zählten vor allem die Aufnahmen mit den heute kaum noch bekannten Stars der Berliner Operettentheater. Couplets aus den Jahresrevuen des Metropol-Theaters  machten als kurzlebige Schlager einen erheblichen Anteil des Repertoires auf den Walzen aus.

Stadtmuseum BerlinDer letzte Taler - Victor Hollaender - 1904

Stadtmuseum BerlinGlühwürmchen-Idyll aus Lysistrata - Johannes Semfke - 1904

Stadtmuseum BerlinOb du mich liebst - Nakiris Hochzeit oder Der Stern von Siam - Siegmund Lieban - 1903

Paul Lincke als Dirigent auf dem Notenblatt „Ein Abend bei Paul Lincke“ (Titelblatt), Berlin 1940 © Stadtmuseum Berlin | Reproduktion: Friedhelm Hoffmann

Im Jahr 1904 schrieb der Komponist Paul Lincke mit dem Marsch Berliner Luft aus der im selben Jahr uraufgeführten, gleichnamigen Posse eine bis heute unvergessene Hymne auf seine Heimatstadt, auf den Walzen oft von Blasorchestern gespielt. Eine der seltenen Gesangs-Aufnahmen hat die Bühnenkünstlerin Margarete Wiedeke hinterlassen. Bekannt für ihre oft sehr freizügigen Couplets mit erotischen Anspielungen, hat sie eine Vielzahl von Walzen besungen. Mit ihrer derben Stimme erhielt Paul Linckes Melodie in einer zeitkritischen Version mit verändertem Liedtext die passende, energische Note.

Stadtmuseum BerlinBerliner Luft - Grete Wiedeke - 1904

Wer sich keine Karte für das Opernhaus leisten konnte, holte sich mit dem neuen Medium die Stimmen berühmter Künstlerinnen und Künstler der Königlichen Hofoper (heute: Staatsoper Unter den Linden) ins Haus.

Stadtmuseum BerlinGnadenarie - Robert der Teufel - Emilie Herzog - 1904,

Stadtmuseum BerlinO ich bin klug und weise - Zar und Zimmermann - Carl Nebe - 1904

Julius Lieban, Künstlerpostkarte, um 1905 © Stadtmuseum Berlin

Ein besonderer Liebling des Publikums der Berliner Hofoper war der Tenor Julius Lieban, der mit seinem Humor in den Vorstellungen beständig für Heiterkeitsstürme sorgte. Mit feiner Ironie, einer Fülle an Modulationsfähigkeiten und dem bravourösen Einsatz der Kopfstimme interpretierte er ein breites Repertoire zwischen Klassik und leichter Unterhaltung.

Stadtmuseum BerlinDer Schweinehirt - Julius Lieban - 1904

Das neue Medium bediente nicht nur den Wunsch nach ständig verfügbarer populärer Musik, sondern eröffnete seinen Hörerinnen und Hörern zugleich unbekannte musikalische Welten. Neben internationaler Volksmusik weckten Klänge aus den Bergregionen das Publikumsinteresse. Dazu gehörte um 1905 die alpenländische Musik mit ihrem typischen Jodel-Gesang. Die Interpreten kamen keineswegs nur aus der Heimat dieser Gesangstechnik. Auch US-amerikanische Künstler verewigten auf den Walzen ihren Jodel-Gesang, der auf deutsche Volkslieder übertragen einen eher kuriosen Anstrich erhielt.

Stadtmuseum BerlinSchlaf Kindchen schlaf - George P. Watson - 1905

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