Die Waisenbrücke

Die Geschichte einer durchtrennten Lebensader der Stadt

Ab Januar 1960 ließ die Stadtverwaltung von Ost-Berlin die Waisenbrücke abreißen, bis Juni 1961 waren die Brückenfundamente beseitigt. Mit dem geschichtsreichen Bauwerk in Sichtweite von Fischerinsel und Mühlendamm verschwand ein Flussübergang, der die Ufer der Spree jahrhundertelang verbunden hatte. Seither ist diese einst zentrale Lebensader der Stadt durchschnitten.

Entstehung

Nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges wollen die Menschen ihre Städte durch hohe Mauern und tiefe Gräben künftig besser schützen. In den späten 1650er Jahren wird deshalb damit begonnen, die noch mittelalterlich geprägte Doppelstadt Berlin-Cölln zur Festungsstadt auszubauen. Dort, wo der Festungsgraben im Osten der Stadt in die Spree mündet, wird als Verlängerung der Festungsmauer über den Fluss ein so genannter Oberbaum errichtet – eine hölzerne Sperre, die Schiffe an der Durchfahrt hindert und erst nach Zahlung der Zollgebühren geöffnet wird. Doch das Wachstum des südlich der Spree gelegenen Viertels „Neukölln am Wasser“ – ein Teil der Luisenstadt und nicht zu verwechseln mit Neukölln – macht bald den Bau einer Brücke nach Alt-Berlin notwendig, da die vorhandenen Spreeübergänge weite Umwege erfordern. 

Die Waisenbrücke um 1780, Kupferstich von Georg Rosenberg © Stadtmuseum Berlin

Anstelle des Oberbaums, der an den flussaufwärts gelegenen Standort der heutigen Oberbaumbrücke verlegt wird, entsteht deshalb zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Holzbrücke. Diese auf Pfählen stehende so genannte Jochbrücken-Konstruktion kann durch bewegliche Klappen Schiffe passieren lassen, und sie ermöglicht den Menschen beiderseits des Ufers auf kürzestem Weg den Flussübergang. Ihren heute noch bekannten Namen „Waisenbrücke“ erhält sie vom benachbarten Großen Friedrich-Hospital, das auch als Unterkunft für elternlose Kinder dient.

Mit mehr als 80 Metern Länge und fast sieben Metern Breite ist die Waisenbrücke einer der wichtigsten Berliner Spreeübergänge. Selbst der ab 1822 nur wenige Dutzend Meter flussaufwärts erbauten Jannowitzbrücke ist sie an Größe und Bedeutung ebenbürtig. Doch die Zeit forderte ihren Tribut: Die alte hölzerne Brücke verfault im Laufe der Jahrzehnte ober- und unterhalb des Wassers so sehr, dass sie 1832 abgebrochen und – wiederum aus Holz – von Grund auf neu errichtet werden muss.

Diese nach 1909 entstandene Ansichtskarte zeigt das bunte städtische Leben an der Waisenbrücke und dem angrenzenden Märkischen Platz © Stadtmuseum Berlin

Ein Neubau aus Stein

Bis weit ins 19. Jahrhundert gehören die meisten Berliner Brücken dem preußischen Staat, der wenig für deren Erhaltung tut. Erst 1876 bekommt der Berliner Magistrat die Verantwortung für die inzwischen größtenteils maroden Bauwerke, die auch den steigenden Anforderungen des Straßenverkehrs nicht mehr gewachsen sind. In den folgenden zwanzig Jahren werden deshalb mehr als 50 Brücken umfassend umgebaut oder teils aufwendig neu konstruiert. Zudem wird die Spree reguliert, der Wasserstand gesenkt, das Ufer befestigt. Im Zuge dessen entsteht auch die Waisenbrücke von 1892 bis 1894 neu – als prächtige, mit Sandstein verkleidete Bogenbrücke, die den schmaler gewordenen Fluss mit nur noch 77 Metern Länge, aber stattlichen 20 Metern Breite auf zwei Pfeilern überspannt.

Breite Gehwege auf beiden Seiten der großzügig bemessenen Fahrbahn laden dazu ein, auf der Waisenbrücke über die Spree zu spazieren oder auf halbrunden Balkonen unter kunstvoll verzierten Straßenlaternen zu verweilen. Von hier schweift der Blick über den Fluss und das geschäftige Treiben am Hafen nach Alt-Berlin mit seinen Dächern, Türmen und Kuppeln. Von 1901 bis 1907 wird am südlichen Ende der Brücke, am Märkischen Platz, das Märkische Museum erbaut, dessen Haupteingang der Architekt Ludwig Hoffmann bewusst auf die Fußgängerströme der Waisenbrücke ausrichtet. Mit der Anbindung an den S-Bahnhof Jannowitzbrücke, den U-Bahnhof Inselbrücke (seit 1935 Märkisches Museum) und durch die Ansiedlung neuer Geschäftshäuser um den Köllnischen Park sowie entlang der Wallstraße wird das vormals beschauliche Stadtquartier an der Waisenbrücke zum belebten Geschäftsviertel.

Im November 1918 bricht im deutschen Kaiserreich infolge der drohenden Niederlage im Ersten Weltkrieg die Revolution aus. Dabei wird die Waisenbrücke zu einem Schauplatz der monatelangen Unruhen in der Hauptstadt. Während der Berliner Märzkämpfe von 1919 zieht der Stab der revolutionären Volksmarinedivision ins benachbarte Marinehaus am Märkischen Ufer ein. Zur Abwehr von rechtsgerichteten Freikorps und Regierungstruppen, deren Soldaten auf Befehl des Reichswehrministers jeden Bewaffneten niedermetzeln, errichten Angehörige der Volksmarinedivision auf der Waisenbrücke Barrikaden – eine Postkarte im Bestand des Deutschen Historischen Museums dokumentiert eine auf der Brücke errichtete Maschinengewehrstellung. Nach rund zwei Wochen erbitterter Kämpfe unterliegen die revolutionären Kräfte schließlich, und das Marinehaus wird durch Beschuss beschädigt. Noch heute erinnert eine Gedenktafel am Gebäude an diese dramatischen Ereignisse.

Auch zum literarischen Schauplatz wird die Waisenbrücke. In „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ aus dem Jahr 1931, dem ersten für Erwachsene geschriebenen Roman von Erich Kästner, schildert der Schriftsteller im Kapitel „Zweikampf am Märkischen Museum“ eine Szene aus der Zeit der Straßenkämpfe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, in der die Waisenbrücke eine – wenn auch kleine – Rolle spielt. 

Fast verschont und dennoch zerstört

Anders als viele Berliner Bauwerke übersteht die Waisenbrücke die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs unbeschädigt. Doch wie fast alle Spreebrücken fällt sie 1945 den deutschen Sprengkommandos zum Opfer, die überall in Berlin Verkehrswege zerstören, um den Vormarsch der Roten Armee aufzuhalten. Während die erst 1927 bis 1934 als moderne Stahlkonstruktion neu erbaute Jannowitzbrücke vollständig versinkt, wird „nur“ der südliche Brückenbogen der Waisenbrücke gesprengt, die übrigen bleiben erhalten. Kurz nach der deutschen Kapitulation errichten die Sowjets anstelle des zerstörten Bogens eine Notbrücke.

Ab 1949 führt eine Trümmerbahn über die Behelfskonstruktion. Mit Feldloren wird der Schutt aus den verwüsteten Bezirken Mitte und Friedrichshain herbeigeschafft und von der Brücke in Lastkähne gekippt, die auf der Spree zum Abtransport bereitliegen. Erst ab 1952 wird mit dem Wiederaufbau der Waisenbrücke begonnen, der nach dem Abräumen der Trümmerbahngleise 1954 abgeschlossen ist. Dennoch schreibt am 26. Januar 1960 „Der Morgen“, das Zentralorgan der Liberaldemokratischen Partei der DDR: „Seit gestern ist die Brücke für den Fahrzeugverkehr gesperrt.“ Der wird nun über die von 1952 bis 1954 in alter Größe wiedererrichtete Jannowitz­brücke geführt. Die Tage der Waisenbrücke sind gezählt.

Die Presse in Ost-Berlin argumentiert aus Sicht der Schifffahrt, nachdem der Magistrat von Groß-Berlin – wie sich die Verwaltung im östlichen Teil der Stadt noch immer nennt – am 22. Januar 1960 beschlossen hat, „die beschädigte und veraltete Waisenbrücke abzureißen.“ Nicht um den Straßen-, sondern um den Wasserverkehr geht es dabei. „Für die Binnenschiffahrt wurde die Waisenbrücke eine ernste Gefahr. Die Brückenbogen sind zu tief, so daß große Schleppzüge selten ohne Havarie diese Stelle passieren“, heißt es in der Berliner Zeitung vom 20. Februar 1960. „Hinzu kommt, daß die Strompfeiler zu eng beieinander stehen“, so der Artikel weiter. Bis zum Juni 1961 dauern die Abbrucharbeiten, zuletzt werden die Fundamente der Brücke gesprengt. Am 27. Juni 1962 widmet die Deutsche Bundespost (West-)Berlin dem zerstörten Bauwerk eine Briefmarke. Dann wird es still um die Waisenbrücke.

Der Brückenstumpf gegenüber dem Märkischen Museum zeugt noch heute von dem zerstörten Spreeübergang © Stadtmuseum Berlin | Foto: Jochen Wermann

Die Waisenbrücke heute

Am ehemaligen Standort der Waisenbrücke lässt sich heute nur noch bei genauem Hinsehen erahnen, dass die Stadtteile diesseits und jenseits der Spree an dieser Stelle einmal eng verbunden waren: Gegenüber dem Märkischen Museum ragt ein mit Sandstein verkleideter und von Geländern umsäumter Brückenstumpf in die Spree – eines der beiden mächtigen Widerlager, auf die sich die Waisenbrücke an den Ufern stützte. Von Bäumen bewachsen und mit Bänken möbliert, lässt der abseits gelegene Aussichtspunkt kaum erkennen, dass sich darunter die Reste einer früher vielgenutzten Brücke verbergen.

Inzwischen beginnen die im Krieg zerstörten und von den Nachkriegsplanern vernachlässigten Quartiere Klosterviertel und nördliche Luisenstadt wieder aufzuleben. Entlang der Heinrich-Heine-Straße sollen in den kommenden Jahren tausende von Wohnungen entstehen. Das nahezu verschwundene Klosterviertel steht ebenfalls vor dem Wiederaufbau. Als sichtbares Zeichen des Aufbruchs hat die Parochialkirche im Juni 2016 ihre Spitze zurückerhalten. Und wo verloren geglaubte städtische Lebensräume neu entstehen, wird auch ihre Verbindung durch eine neue Waisenbrücke bald eine neue Bedeutung bekommen. Weitere Informationen, Hintergründe und Veranstaltungshinweise hierzu finden Sie auf unserer Übersichtsseite zur Waisenbrücke.

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