Facetten einer Fotografin – Alltag in der DDR
Rückzugsort und Inspiration
Die einstige „Zauberbude“ der Berliner Künstlerin blickt auf eine lange und bewegte Geschichte zurück. Heute ist das Atelier in einem Gründerzeithaus am Kurfürstendamm 29 ein authentischer Ort der Erinnerung.
Kurfürstendamm 29: Eine noble Adresse im Berliner Westen und ein repräsentativer Altbau. Errichtet 1896/97 von Architekt Ferdinand Döbler und in den 2010er Jahren stilsicher renoviert, schmückt ein liebevoll restauriertes Fresko aus den Erbauungsjahren das Foyer. Von hier aus gelangt man in einen hellen, luftigen Innenhof, der zu dem ebenfalls repräsentativen Seitenflügel führt. Schon verebben die Verkehrsgeräusche, und eine unerwartete Stille umfängt Besucherinnen und Besucher mitten in der Berliner City West. Nach scheinbar endlosem Treppenaufstieg (91 Stufen!) ist die vierte Etage und somit das Ziel erreicht: das Atelier der Berliner Künstlerin Jeanne Mammen.
Hier mietete sich die 1890 in Berlin geborene, in Paris aufgewachsene und nach ihrem Kunststudium in Brüssel nach Berlin zurückgekehrte Jeanne gemeinsam mit ihrer Schwester Marie Louise, genannt Mimi, ein 55 Quadratmeter großes Zwei-Zimmer-Atelier – zwar mit Zentralheizung, aber nur fließend kaltem Wasser und Außentoilette im Treppenaufgang. „Der Wirt hat gedacht, Künstler brauchen nix. Die leben von Luft und Wasser“, erinnerte sich Jeanne Mammen 1975 an die erste Zeit in der Wohnung. „Als wir einzogen, gab es nur Gasbeleuchtung, dabei zwei Stühle, zwei Staffeleien. Wir schliefen auf der Erde, auf Matratzen.“
Der Zeitzeuge Fritz Hellwag, Herausgeber des Kunstgewerbeblattes, beschrieb die beiden Schwestern, die er unmittelbar nach ihrer Ankunft in Berlin kennenlernte, so: Die eine, die „den Künstlernamen Folcardy angenommen hat, während die andere ihre Werke mit ihrem richtigen Namen Mammen zeichnet […] Fräulein Mammen ist romantischer veranlagt und neigt mehr zur malerischen Ausdrucksweise. Beide sind für die Illustrierung guter Bücher sehr befähigt.“ Dabei durften die Schwestern, die Gebrauchsgrafik anboten, bei der Wahl ihrer Lohnaufträge nicht wählerisch sein. Erst mit Zunahme der Verlagsaufträge – und dadurch kleinem, aber gesicherten Einkommen – sowie mithilfe einer väterlichen Bürgschaft waren die nunmehr 30- bzw. 32-Jährigen in der Lage, zum 1. April 1920 ihr eigenes Atelier im Gartenhaus Kurfürstendamm 29 zu mieten.
Jeanne Mammen, Berlin, 1930er Jahre (Ausschnitt) © Archiv Förderverein der Jeanne Mammen Stiftung e.V.
Von da an bis zu ihrem Tod am 22. April 1976 blieb Jeanne in diesem Haus am Kurfürstendamm wohnen. Sie erlebte hier die legendären „goldenen Zwanziger“ ebenso wie nationalsozialistische Aufmärsche, die Arisierung der Geschäfte, Deportationen der jüdischen Bevölkerung sowie die Studierendenbewegung und das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968. Als stille Beobachterin registrierte sie die Umbrüche und Verwerfungen und kommentierte sie auf ihre Weise künstlerisch mit Stift, Pinsel oder ihren Händen, wenn sie plastisch arbeitete. Weitere prominente Mieter im Hause „Ku’damm“ 29 waren der Schweizer Maler Karl Walser (1877–1943), Mitglied der am Kurfürstendamm beheimateten Kunstgruppierung „Berliner Secession“ – von der das Stadtmuseum Berlin einige Werke in seiner Sammlung bewahrt – sowie dessen Bruder, der Schriftsteller Robert Walser.
Das Atelier
Durchflutet von klarem Licht, das sich durch das große, nach Norden gelegene Atelierfenster seinen Weg bahnt, war Jeanne Mammens Zuhause zu allen Zeiten ein gesellschaftlicher Treffpunkt. Von Beginn bis Mitte der 1930er Jahre kamen neben Bildhauer Hans Uhlmann vor allem der Chemiker Kurt Wohl und seine Frau Grete, der Biochemiker Hans Gaffron und seine Frau Clara sowie der Genetiker und Biophysiker Max Delbrück mit seiner späteren Frau Manny regelmäßig zu Besuch. Die NS-Zeit bedeutete jedoch einen drastischen Schnitt. Nicht nur waren die jüdischen Freundinnen und Freunde gezwungen zu emigrieren, auch Mimi entschloss sich 1937, gemeinsam mit ihrer Lebenspartnerin Berlin zu verlassen und sich in Teheran niederzulassen. Im Atelier wurde es einsam um Jeanne Mammen, auch beruflich fühlte sie sich zunehmend isoliert.
Jeanne Mammen in ihrem Atelier, um 1946 © Jeanne-Mammen-Stiftung | Foto: unbekannt
Das Atelier wurde zum Rückzugsort der Künstlerin und zum Schutzraum für die Kunstwerke, die Jeanne Mammen dort im Verborgenen schuf und die so gar nicht zur offiziellen NS-Kunstpolitik passen wollten. Beeindruckend sind rund 20 plastische Werke, die zwischen 1933 und 1945 entstanden sind. Mit Titeln wie „Kopf mit Schatten“, „Hermaphrodit“, „Doppelprofil“ und „Doppelauge“ zeugen sie davon, wie stark Jeanne Mammen unter den politischen Verhältnissen und den damit einhergehenden Denunzierungen und Widersprüchlichkeiten litt. Ihr Überleben sicherte sie sich durch Gelegenheitsarbeiten für das „Reichsinstitut für Puppenspiel“ und Schaufensterdekorationen von Modegeschäften am „Tauentzien“. Eine verborgene Einnahmequelle war der Verkauf ihrer Bilder durch ihren in die USA emigrierten Freund Max Delbrück.
Jeanne Mammen beim Bau von Dekorationen, 1949/50 © Jeanne-Mammen-Stiftung | Foto: Rempor Studio Berlin
Zum Treffpunkt für Freunde und Gleichgesinnte wurde das Atelier erst wieder nach Kriegsende. Gleich Anfang Mai 1945 fanden die ersten Besprechungen für gemeinsame Ausstellungen statt, die Hans Uhlmann im Auftrag des Kulturamtes in Berlin-Steglitz organisierte. Jeanne Mammen, die sich in den 1920er Jahren nie dazu entschließen konnte, einer Künstlergruppe beizutreten, wagte dies nun. Zusammen mit ihren Freunden, den bildenden Künstlern Hans Uhlmann, Hans Thiemann, Heinz Trökes sowie später Klaus Hartung und Mac Zimmermann, stellte sie 1948 unter dem Namen „Zone 5“ in der Galerie Franz erstmals wieder Arbeiten aus. Dieser Name war eine Anspielung auf die vier Besatzungszonen Berlins. Stilistisch waren die Werke völlig unterschiedlich, thematisch geeint aber wurden sie durch die Überzeugung, dass der Zeitpunkt für eine künstlerische Neuordnung der (Nachkriegs-)Welt gekommen war. Der intellektuelle Ansatz ähnelte der Aufbruchsstimmung, die 1918 die Gründungsmitglieder der Novembergruppe beflügelt hatte.
Zu diesem neuen Lebensgefühl passte im Jahr darauf auch Mammens Beteiligung an der Gründung des Künstlerkabaretts „Badewanne“. Die Idee dazu hatten die Malerin Katja Meirowsky und ihr Mann, der Schriftsteller Karl Meirowsky. Die NS-Zeit hatte Katja in der Illegalität in Polen überlebt, während Karl 1938 nach London emigrieren konnte. 1947 kehrte er nach Berlin zurück. Es war vor allem seinen guten Kontakten zur US-Militärregierung zu verdanken, dass im Sommer 1949 das Künstlerkabarett im legendären Femina-Palast (heute Ellington Hotel) in der Nürnberger Straße eröffnen konnte.
Mit Freunden im Atelier, um 1950 © Jeanne-Mammen-Stiftung | Foto: unbekannt
Ein halbes Jahr lang traten dort bildende Künstler auf, unter ihnen Alexander Camaro, Hans Laabs, Johannes Hübner und Lothar Klünner – mit selbstgeschriebenen Kurzprogrammen und zum Teil in von Jeanne Mammen geschaffenen Kulissen und Kostümen. Obwohl im Durchschnitt zwischen 10 bis 15 Jahre jünger, wurden sie ihr dennoch zu guten Freunden und treuen Wegbegleitern.
Das Atelier war ein häufiger Treffpunkt, um zu diskutieren und gemeinsam kreativ zu arbeiten. Es war Refugium und Inspiration. Jeanne Mammens langjähriger Freund Max Delbrück, der im Oktober 1975 zu Besuch nach Berlin gekommen war, fasste ein letztes Mal seinen Eindruck zusammen: „Wir besuchten sie am 30. Oktober abends, sehr ausführlich und gemütlich, in ihrer Zauberbude. Mit dem letzten Bild, fast ganz in Weiß, auf der Staffelei. Wir wussten, dass es der letzte Besuch sein würde, sie wohl auch, obwohl man ihr die Diagnose (Lungenkrebs) nicht gesagt hatte. Ich kam noch einmal am nächsten Tag, wir scherzten, ich über meinen Haarausfall ‚Der Mensch wird langsam mangelhaft…‘, sie gab gleich, mit inniger Freude zurück: ‚...Die Locke wird dahin gerafft‘. Abschied, im pianissimo des höchsten Alters“. Nur wenige Monate nach diesem Besuch starb Jeanne Mammen am 22. April 1976 in ihrem 86. Lebensjahr in Berlin.
Unvergessliche „Zauberbude“
Das Besondere der Begegnungen an diesem Ort veranlasste die Freunde nach dem Tod der Künstlerin, alles daran zu setzen, das Atelier so zu erhalten, als wäre Jeanne Mammen nur eben für eine Besorgung außer Haus und als würde sie jeden Moment wieder zur Tür hereinkommen. Jedes Bild, jedes liebevoll von eigener Hand gestaltete Möbel, kleiner Krimskrams mit großen Geschichten in den Regalen und eine Bibliothek mit deutschen Klassikern wie Goethe und aufgeklärten Franzosen wie Rimbaud sollte am jeweiligen Platz bleiben. Sie beschlossen, das Atelier, diese „Zauberbude“, in ihrem Sinn zu erhalten und damit Jeanne Mammens künstlerisches Werk vor dem Vergessen zu bewahren. Sie gründeten die Jeanne-Mammen-Gesellschaft und initiierten zahlreiche Ausstellungen und Veröffentlichungen zu Mammen selbst und zu ihrem Freundeskreis. 1997 erschien das umfangreiche Werkverzeichnis.
Das Atelier heute © & Foto: Jens Ullrich
Auf der Suche nach einer dauerhaften Bleibe für den künstlerischen Nachlass und das Atelier wandelte sich die Gesellschaft in einen Förderverein um, der die 2003 unter dem Dach des Stadtmuseums Berlin gegründete unselbstständige Stiftung unterstützte. 2018 beschloss der Verein seine Auflösung. Von 1976 bis 2018 – also 42 Jahre lang – schützte und erhielt er das Atelier, ausgestattet mit Originalen und eingerichtet wie zu Mammens Lebzeiten. Lothar Klünner, ein enger Freund Jeanne Mammens, beschrieb 1991 die konservierte Aura: „Ein kontrastreiches, energiegeladenes Ambiente schlägt den Besucher in Bann. Er verspürt einerseits steigende Erwartung und Spannung – andererseits liegt hier so viel Geduld in der Luft. Ja, aus den Wänden sintert noch immer das Leben; ich behaupte, in seiner kostbarsten, sublimsten Form, philosophisch geklärt als Weisheit. Dieses Atelier zog die Summe aus Jeanne Mammens schöpferischer Existenz. Es ist ihr Gesamtkunstwerk.“
Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen, in denen die Erinnerung an eine große Berlinerin wachgehalten wurde und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland am authentischen Ort über Jeanne Mammen forschen konnten. Viele Ausstellungen fanden seither statt, in denen die Künstlerin neben männlichen Kollegen wie George Grosz oder Otto Dix ihren Platz hatte. 2017 brachte eine große Retrospektive in der Berlinischen Galerie Jeanne Mammen endgültig einem breiten Publikum wieder in Erinnerung. Seither ist das Interesse an der Künstlerin, an Leihgaben originaler Objekte oder an Führungen durch ihr Atelier ungebrochen. Zum Schutz der Objekte war deren Verbleib im Atelier jedoch nicht länger zu verantworten. Deshalb wurden sie 2018 in das Spandauer Zentraldepot des Stadtmuseums Berlin überführt. 2019 wurde das Atelier unter der Leitung des Stadtmuseums Berlin als Gesamtkunstwerk der Berliner Künstlerin Jeanne Mammen rekonstruiert und öffentlich zugänglich gemacht.