Papiertheater

Großes Schauspiel auf der kleinen Bühne

Einmal im Jahr kommen Jung und Alt ins Märkische Museum, um sich dort von kleinen Papierfiguren verzaubern zu lassen. Corona-bedingt musste die langjährige Tradition der Papiertheater-Aufführungen und -Workshops 2020/21 leider unterbrochen werden. Doch hinter den Kulissen ging und geht es weiter.

Papiertheater spielen heute längst nicht mehr die Rolle, die sie einmal hatten. Vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts an waren die Miniaturbühnen zum Ausschneiden und Zusammenbauen im „gutbürgerlichen“ Heim weit verbreitet und noch bis in die 1920er Jahre aus fast keinem Kinderzimmer wegzudenken. Der Fortschritt der Drucktechnik im 19. Jahrhundert hatte es ermöglicht, Papierspielzeug günstig und in hoher Auflage herstellen zu können.

Papiertheater wurden meist als Bilderbogen zum Selbstbauen angeboten – einseitig bedruckt im Bogenmaß von etwa 36 mal 43 Zentimetern. Es gab sie aber auch fertig montiert zu kaufen. Dazu waren Texthefte zum Nachspielen bekannter Theaterstücke, Operetten und Märchen erhältlich. Mit ihrer Liebe zum Detail regten sie die Kreativität und Fantasie auf eine Weise an, dass selbst heute noch Menschen Papiertheater bauen, sammeln und damit Theaterstücke aufführen.


Textheft „Der Verschwender“. Nur zwei Figuren wurden ausgeschnitten und auf Pappe gezogen. © Stadtmuseum Berlin | Foto: Oliver Ziebe

Ein Thalia-Theater der Firma Engel

1993 wurde im Märkischen Museum begonnen, die umfangreiche Sammlung von Papiertheatern nicht nur zu bewahren und zu erforschen, sondern auch dem Publikum bekannt zu machen. Neben einer Sonderausstellung und jährlichen Papiertheater-Aufführungen gab es dazu vor allem in der Adventszeit Workshops. Zudem schloss sich das Märkische Museum mit anderen Institutionen, Sammler:innen und Papiertheaterspieler:innen zusammen, um Wissen auszutauschen und Kontakt zu pflegen. Diese Arbeit wurde nach der Gründung der Stiftung Stadtmuseum 1995 weitergeführt, die Papiertheater-Sammlung durch den Zusammenschluss mit der stadtgeschichtlichen Sammlung West-Berlins erweitert und seither kontinuierlich ergänzt.

Nicht ausgeschnittenes Proszenium, Verlag Gustav Kühn in Neuruppin (1840–1895) © Stadtmuseum Berlin | Foto: Friedhelm Hoffmann

Im Sommer 2021 wurde dem Stadtmuseum Berlin der private Nachlass des Berliner Archäologen Wolfram Nagel (1923–2019) als Schenkung übergeben. Darunter befand sich auch ein sehr gut erhaltenes Papiertheater. Benannt ist dieses Theater nach der griechischen Muse der komischen Dichtung und der Unterhaltung: Thalia-Theater. Es besteht aus einem Holzkasten, auf den die Kulissen und das sogenannte Proszenium gesteckt werden – der vordere Teil der Bühne, hinter dem sich der Vorhang befindet. Das Proszenium ist ebenfalls aus Holz gefertigt und mit detailreich bedrucktem Papier beklebt. Am unteren rechten Rand befindet sich die Signatur der Berliner Firma Adolph Engel, einem Hersteller und Verlag von Spielwaren, vor allem von Bilderbogen, Papiertheatern, Bilderbüchern und anderen Druckerzeugnissen für die Jugend. Die Firma bestand von 1848 bis circa 1906.

Die Dekoration, also Kulisse und Spielfiguren, des Theaters lässt sich je nach Stück und Szene austauschen. Dem Papiertheater sind 18 verschiedene Dekorationen beigefügt, von der „Bauernstube“ bis hin zum „Orientalischen Palast“. Sie bestehen jeweils aus einem Hintergrund und meist sechs Seitenkulissen, drei auf jeder Seite, aus denen die Figuren auftreten und wieder abgehen können. Ausgeschnittene Löcher in einigen Hintergründen bewirken, dass bei abgedunkeltem Raum geschickt platzierte Kerzen den Lichteinfall eine Sonne erstrahlen lassen oder einen Sternenhimmel zum Glitzern bringt. Diese Dekorationen stammen fast alle von der Firma J. F. Schreiber aus Esslingen am Neckar, ebenso die beigefügten zwölf Texthefte.


Rotkäppchen, mit Kerzenlicht stimmungsvoll inszeniert vom „Papiertheater Invisius“. Das Theater ist ein Nachbau aus der Sammlung des Stadtmuseums Berlin. © Rüdiger Koch | Foto: Rüdiger Koch

Von Blitzen und Hexen

Die Firma J. F. Schreiber war einer der bekanntesten Papiertheater-Hersteller Deutschlands. Auch international bekannt, wurde sie bis 1988 als Familienunternehmen geführt. J. F. Schreiber brachte viele Texthefte zu bekannten Märchen, Operetten und Theaterstücken heraus, und in jedem Heft wurden weitere Texte und Dekorationen empfohlen. So ist gleich auf der Innenseite des vorderen Heftumschlags zu sehen, welche Dekorationen für das jeweilige Stück verwendet werden sollen.


Dekoration „Garten“, Verlag J. F. Schreiber © Stadtmuseum Berlin | Foto: Oliver Ziebe

Zudem geben die Hefte Tipps für die Aufführung – zum Beispiel, wie Geräusch- und Lichteffekte erzeugt werden können. So entsteht Donner, wenn eine große und stabile Pappe geschüttelt wird und ein Blitz, wenn man pulverisiertes Kolophonium, ein Produkt aus Baumharz, durch ein Papierröhrchen in eine Flamme pustet. Auf der hinteren Innenseite des Heftumschlags befindet sich jeweils ein Bilderbogen, auf dem die zum Stück gehörenden Figuren dargestellt sind. Bei unserem Theater sind die meisten Figuren ausgeschnitten worden, auf Karton oder Holz geklebt und teilweise lackiert. Zum besseren Stand wurde an einige Figuren ein Sockel aus Holz, zum Teil mit Bleigewicht, oder auch ein Ankerbaustein aus den damals weit verbreiteten Baukästen geklebt.

Das wohl meistgespielte Stück in unserem Thalia-Papiertheater war das Märchen „Hänsel und Gretel“. Drauf deuten die zahlreichen Randnotizen, Korrekturen und Streichungen in der Textvorlage hin. Schwarze Rußspuren an der Figur der Hexe deuten zudem auf eine sehr dramatische und reale Spielweise des Stücks hin.


Textheft und Figuren zum Märchen Hänsel und Gretel, Verlag J. F. Schreiber © Stadtmuseum Berlin | Foto: Oliver Ziebe

Gekauft wurden das Papiertheater und das Zubehör höchstwahrscheinlich in Berlin. Hinweise darauf geben ein „5 Minuten Pause“-Schild, auf dem sich der Name des Papierwarengeschäfts „G. Honrath“ in der Charlottenstraße 62 befindet, sowie das Textheft zur romantischen Oper „Tannhäuser“ mit einem Aufkleber des Spielwarengeschäfts „Bernhard Keilich“ in der Großen Hamburger Straße 21-23. Zum Bewegen der Figuren auf der Bühne liegen dem Theater drei selbstgebaute Wendefigurenführer aus den 1930er Jahren bei.

Immaterielles Kulturerbe Papiertheater

Wer sich ein Herz für Spiel und Miniaturmodell bewahrt hat, wird angesichts des neuesten Stücks unserer Sammlung vielleicht verstehen, warum Papiertheater auch nach über 200 Jahren noch das Publikum und Theaterliebende in seinen Bann zieht. Nicht nur, dass eine Aufführung der eines „großen“ Theaters gleicht: Heutzutage kommen neben liebevoll gestalteten Papierfiguren auch moderne Stücke, bewegliche Kulissen und eine ausgeklügelte Beleuchtungstechnik zum Einsatz. Das erfordert Kreativität und handwerkliches Geschick. Daher würdigt die deutsche UNESCO-Kommission die Tradition und Ausdrucksform des Papiertheaters 2021 mit der Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes. „Toi, toi, toi“, dass wir unser Publikum in den kommenden Spielzeiten wieder zur Papiertheatervorstellung begrüßen dürfen.

Kontakt

Randy-Noreen Rathenow

Sammlungsmitarbeiterin
Sammlung Spielzeug, Kindheit und Jugend

030 353 059 571
Entdecken Sie die Spielzeugsammlung des Stadtmuseums Berlin
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